Allein zwischen anfangs 2015 und Ende August 2017 wurden in der Schweiz 905 Fälle von Zwangsheiraten registriert. Dies ergab ein am 31. Oktober veröffentlichter Bericht des Bundesrates. Die letzte Erhebung des Bundes kam 2012 auf jährlich 700 Fälle. Eine Studie der Stiftung «Surgir» aus dem Jahr 2006 bezifferte die Totalzahl in der Schweiz auf 17’000 – eine Hochrechnung aufgrund tatsächlich registrierter Fälle. Es ist jedoch schwierig, das Phänomen mit verlässlichen Zahlen zu erfassen. Die Dunkelziffer ist hoch. Die meisten Meldungen erhielt die «Fachstelle Zwangsheirat». In den letzten zehn Jahren hat sie insgesamt 1’721 Fälle beraten.
80 Prozent der Opfer sind in der Schweiz geboren oder hier aufgewachsen. Der Grossteil der Hochzeiten findet im Ausland statt, insbesondere während der Sommerferien. Vier von fünf Betroffenen sind Frauen. Am häufigsten stammen die Opfer aus Kosovo, Sri Lanka, der Türkei, Albanien, Mazedonien, Afghanistan und Syrien. Fälle aus den letzten beiden Herkunftsstaaten haben in den letzten fünf Jahren stark zugenommen. Die jun-gen Opfer sind meist bereits in zweiter oder dritter Generation in der Schweiz. Meist übt (unter anderem) der Vater den Druck aus. Besonders häufig werden Fälle aus Bern, Zü-rich, Basel und St. Gallen gemeldet.
Seit 2013 ist in der Schweiz ein Gesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten in Kraft – zum Schutz der Opfer. Parallel zur Gesetzesrevision lancierte der Bund seinerzeit für zwei Millionen Franken ein Programm zur Bekämpfung von Zwangsheiraten, das auf fünf Jahre begrenzt war und Ende 2017 auslief. Es soll auch nicht verlängert werden, obwohl es gemäss einer externen Evaluation grundsätzlich erfolgreich war.
In zwei Phasen wurden jeweils 18 Projekte unterstützt. In einer ersten Phase konnten sich regionale Netzwerke bilden und bestehende Strukturen weiterentwickeln. Klare Ab-läufe sind wichtig, denn im Ernstfall müssen die Behörden rasch handeln können. In der zweiten Phase lag der Schwerpunkt bei der Aufklärung potenziell Betroffener. Die Zu-kunft der Projekte hängt nach dem Rückzug des Bundes vom Willen der Kantone ab, sich finanziell zu engagieren.
2015 wurde nebst regionalen Projekten mit der «Fachstelle Zwangsheirat» ein überregi-onales Kompetenzzentrum geschaffen. Dieses soll auch nach Abschluss des Pro-gramms vom Bund weiterhin mit 800’000 Franken jährlich finanziert. Zusätzlich soll mit einer Stelle im SEM weiterhin «der Austausch auf Bundesebene gepflegt werden». Eine Fallkoordination, wie sie die Fachstellenleiterin Anu Sivaganesan fordert, wird es aber nicht geben. Österreich oder Grossbritannien kennen solche staatlichen Stellen, wo im Notfall alle Fäden zusammenlaufen.
Sivaganesan kritisierte, dass das Staatssekretariat für Migration zu wenig Kompetenzen habe. Tatsächlich ist es trotz der neuen Gesetzgebung von 2013 bisher erst zu einer ein-zigen strafrechtlichen Verurteilung gekommen. Im Sommer 2016 wurde ein Vater zweier Töchter von der Basler Staatsanwaltschaft zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, unter an-derem wegen Zwangsheiraten. (sda/TA/EJPD)